Das kann weg! Ein Artikel der Straßenzeitung zebra.
Ein Beitrag zum Thema Obdachlosigkeit. So innovativ und fortschrittlich Südtirol in vielen Bereichen ist – im Umgang mit Obdachlosigkeit setzt man auch diesen Winter auf Symptombekämpfung und Notfallpläne: Räumungen, Platzverbote, temporäre Schlafplätze. Aber wer ist obdachlos? Warum? Und wie geht man andernorts mit dem Phänomen um?
Text: Lisa Frei, Alessio Giordano
Foto: Ludwig Thalheimer
Ein Artikel der Straßenzeitung zebra. vom Dezember/Jänner 2019/20
So innovativ und fortschrittlich Südtirol in vielen Bereichen ist – im Umgang mit Obdachlosigkeit setzt man auch diesen Winter auf Symptombekämpfung und Notfallpläne: Räumungen, Platzverbote, temporäre Schlafplätze. Aber wer ist obdachlos? Warum? Und wie geht man andernorts mit dem Phänomen um?
Alagies grünes Zelt war Ende Oktober groß aufgemacht im ganzen Land auf den Titelseiten der Tageszeitungen zu sehen. Der 20-jährige Gambier hatte es einige Wochen zuvor im Einkaufszentrum Twenty in Bozen gekauft: 29,90 Euro. An jenem Morgen, als sein Schlafplatz unterhalb der Kampillbrücke geräumt wurde, war er gerade bei der Arbeit. Ein Freund rief ihn an und berichtete, dass es nun kein Zelt mehr gab, in dem er sich an diesem Abend schlafen legen konnte. Seinen Rucksack und die wichtigsten Habseligkeiten hatte Alagie bei sich. In den darauffolgenden Nächten schlief er auf Parkbänken und in den Baracken rund um das Bahnhofsgelände.
Wer sind die Obachlosen?
An einem nassen Novembernachmittag sitzt Alagie gemeinsam mit Federica Franchi in einer Bar in der Carduccistraße. Federica engagiert sich seit Jahren als Freiwillige in Bozen. In letzter Zeit hat sie ihren Einsatz etwas zurückgeschraubt. Sie sei frustriert, zu herb seien die ständigen Rückschläge, belastend die Schicksale der Menschen, denen sie tagtäglich begegnet. Die Worte sprudeln nur so aus der 48-Jährigen heraus und sie weiß nicht wo sie anfangen soll. Erst gestern etwa, diese Familie: Zwei kleine Kinder und kein Platz für sie. Drei Nächte schliefen sie in der Notaufnahme im Krankenhaus und es scheint als gäbe es tatsächlich keinen Ort, wo diese vier Menschen vorübergehend bleiben können. „Das dürfte es bei uns doch nicht geben!“, sagt die Freiwillige.
Die Obdach- und Wohnungslosen in Bozen haben teils sehr ähnliche Geschichten und Gründe dafür, warum sie in dieser Lage sind (siehe Infobox). Ein Teil dieser Menschen verfügt über eine gültige Aufenthaltsgenehmigung und gar einige Betroffene gehen einer Arbeit nach. Was etwa diese Gruppe meist junger Leute von einem geregelten Leben und einer Zukunft als steuerzahlende Bürger*innen fernhält, ist der mangelnde Zugang zum Wohnungsmarkt. Ein Dilemma, das in einem Land wie Südtirol, das mitunter händeringend nach Arbeitskräften sucht, doppelt schwer wiegt. Einer anderen Gruppe, meist älteren EU-Bürger*innen, die mitunter an Suchterkrankungen und gesundheitlichen Problemen leiden, fehlt es an längerfristigen Alternativen zum Leben auf der Straße. Weil sie in den Einrichtungen keinen Alkohol trinken, oder ihren Hund nicht mitbringen können, bleibt für sie nur die Straße.
Die Situation bleibt prekär
Ende November präsentiert die zuständige Gemeindereferentin Chiara Rabini den Bericht über die aktuelle Situation von Asylbewerber*innen, Geflüchteten und Wohnungslosen im Bozner Gemeinderat. Laut diesem waren im Oktober 2019 in der Gemeinde Bozen 458 Menschen in den diversen Strukturen und provisorischen Notquartieren für Obdach- und Wohnungslose untergebracht. Die Notschlafstätten sind für die Menschen zwischen 20 und 8 Uhr zugänglich. Den Tag müssen sie außerhalb dieser Öffnungszeiten anderswo verbringen, was für viele im Winter besonders belastend ist. Eine vorhandene Tagesstätte in Bozen ist nur für EU-Bürger*innen zugänglich. Einige Schlafplätze können lediglich für 60 Tage zugesichert werden, dann müssen diese verlassen werden und eine neue Einschreibung in die Warteliste ist notwendig. Die Zahl der Menschen auf den Wartelisten, die also momentan keinen Unterkunftsplatz haben, wird im Bericht der Gemeinderätin mit 80 beziffert.
Recherchen zu den aktuellen Zahlen auf den Wartelisten der Notschlafstellen, Obdachlosenhäuser und den Plätzen in Arbeiterwohnheimen, für welche die Bewohner*innen durchaus marktkonforme Mieten bezahlen, gestalteten sich schwierig. Direkte Anfragen im November 2019 hinlänglich Wartelisten und Wartezeiten bei den Häusern zeichnen ein klares Bild: Über 100 Personen auf den Wartelisten der Notschlafstellen in Bozen und Brixen, rund 150 Einzelpersonen und über 40 Familien auf den Listen von temporär begrenzten Wohneinrichtungen im Raum Bozen. Auf den Wartelisten der WOBI-Arbeiterwohnheime scheinen über 500 Personen auf. Die Wartezeiten betragen im Schnitt über ein Jahr. Nicht alle Strukturen sind bereit, hierzu Informationen zu geben. Im von öffentlichen Geldern unabhängig geführten Wohnprojekt „Haus der Solidarität“ in Brixen gibt es derzeit keine Warteliste mehr, zu groß ist die Nachfrage. Das größte Problem, so teilt eine Vertreterin der Hausleitung mit, sei, dass die derzeit im Haus lebenden Menschen teils einer geregelten Arbeit nachgehen aber schlichtweg keine leistbaren Wohnungen finden. Ein Phänomen, das sich über das ganze Land hinwegzieht. Ende November werden in der ex Gorio Kaserne in Bozen 32 Schlafplätze (Zutritt nur zwischen 20 und 8 Uhr) für Berufstätige aktiviert. Für Menschen, die in der Nacht arbeiten, ist die Unterkunft nicht geeignet. Anfang Dezember eröffnet eine Gruppe Bürger*innen in Bozen ein privates Haus für bis zu 40 Personen. Man wolle nicht länger warten bis Politik und Verwaltung aktiv werden. Eine begrüßenswerte Initiative, die jedoch nicht die öffentliche Hand aus der Verantwortung entlässt und nichts an der Tatsache ändert, dass der Bedarf an Schlafplätzen noch nicht gedeckt ist.
Eine aktive Zivilgesellschaft
In Bozen gibt es neben den lokalen Hilfsorganisationen (Caritas, Volontarius, Vinzenzgemeinschaft), welche Unterkünfte, Kleiderkammern, eine Tagesstätte, Essensausgaben, Duschmöglichkeiten, medizinische Versorgung etc. anbieten auch ein knappes Dutzend Freiwilligeninitiativen, die sich seit Jahren der Thematik angenommen haben. Sie treten mit Betroffenen in Kontakt, informieren, organisieren und bieten niederschwellige Hilfe an. Anfang Oktober haben sich viele dieser Freiwilligen gemeinsam mit Vertreter*innen verschiedener Sozialorganisationen und Vereine, Student*innen und Interessierten an der Freien Universität Bozen zur Tagung „Obdachlos in Bozen“ eingefunden. Vom Interesse und der großen Zahl an Teilnehmer*innen zeigen sich nicht nur die Organisator*innen rund um die Journalistin und Freiwillige Lissi Mair, den Verein Volontarius und die Vinzenzgemeinschaft überrascht. Mit auf dem Podium diskutieren Gäste aus dem Ausland, Willy Nadolny von der Bahnhofsmission Berlin Zoo, Pfarrer Wolfgang Pucher vom Grazer „Vinzidorf“ und Daniela Unterholzner von „neunerhaus“ in Wien (siehe Interview).
Es werden Praxisbeispiele analysiert und überlegt, welche Schritte in Bozen eingeleitet werden könnten, um die Situation für alle Beteiligten zu verbessern. Es fehlt etwa ein Ort, an dem Menschen ihre Habseligkeiten sicher aufbewahren können, simple Schließfächer wären für viele eine enorme Erleichterung. Gleiches gilt für eine Wärmestube, in der sich die Menschen unabhängig ihrer Nationalität auch tagsüber im Warmen aufhalten können und wo gemeinsam mit Sozialarbeiter*innen erste Schritte aus der Obdachlosigkeit angedacht werden können. Ein anderes Ausschlusskriterium bedeutet für einige Betroffene das Alkoholverbot, das in den Strukturen herrscht. In Innsbruck hat im Oktober 2019 der Aufenthaltsraum „Nikado“ eröffnet, in dem Menschen niedrigprozentigen Alkohol konsumieren können. Dass langjährige und stark alkoholabhängige Menschen schlichtweg nicht mehr von der Droge wegkommen und daher keinerlei Chance auf eine Unterbringung in einer Struktur mit Abstinenzvoraussetzung haben, dieser Realität blickt man im „Vinzidorf“ in Graz ins Auge: Dort verbringen alkoholkranke obdachlose Menschen einen würdigen Lebensabend. In den Wohnungen von „neunerhaus“ widmen sich Betroffene erst in einem zweiten Schritt dem Kampf gegen die Sucht oder der Arbeitssuche. Am Anfang steht die stabile Wohnsituation.
Die Studierenden des Studienganges Eco-Social Design präsentieren eine Sensibilisierungskampagne für die Bevölkerung und ein Upcycling-Projekt, das Obdachlosen zugutekommt. Das Thema liegt den über 100 Tagungsteilnehmer*innen am Herzen und das Engagement und der Wille, sich an einer Verbesserung der Situation zu beteiligen, ist groß. Aber es drücken auch viele ihren Unmut aus. Mit der Situation fühle man sich alleingelassen und als Freiwillige nicht wertgeschätzt. Das Fazit der Tagung: Die Verantwortlichkeit solle nicht auf den Schultern Dutzender Freiwilliger lasten, sondern es brauche politische Maßnahmen, nachhaltige Strategien und eine Lobby für obdachlose Menschen.
Was bringen Verbote und Räumungen?
Politisch ist das Thema Wohnungslosigkeit ein heißes Eisen, an dem sich niemand die Finger verbrennen möchte. Mit innovativen Wohnprojekten für marginalisierte Menschen lassen sich kaum Wählerstimmen gewinnen. Räumungen und Platzverbote generieren Schlagzeilen und vermitteln immerhin das Bild, dass etwas unternommen wird. Dass die „Geräumten“ unter der Brücken und die „Verwiesenen“ aus den Parks sich nicht in Luft auflösen, sondern nach einer Zeitlang einfach wieder ein neues Zelt unter der Brücke aufschlagen oder sich eine andere Parkbank suchen, ist klar. Bettelverbote, Alkoholverbote, Überwachungskameras, Platzverweise, die Entfernung von Sitzmöglichkeiten an viel frequentierten Plätzen oder das Aufschütten von Steinhaufen unter Brücken erzielen nur auf den ersten Blick den gewünschten Effekt.
Auf der Tagung in Bozen illustriert Daniela Unterholzner das Phänomen mit einem Beispiel aus Wien: 2018 wurde am Praterstern, ein Verkehrsknotenpunkt, an dem sich viele obdachlose Personen aufgehalten haben, ein Alkoholverbot bewirkt. Der Ort, an dem die Polizei und die mobile Sozialarbeit stets präsent waren, wurde daraufhin von den Betroffenen gemieden. Das Problem wurde durch das Verbot jedoch nicht gelöst, sondern hat sich verlagert: Die Menschen sind nur nicht mehr so leicht auffindbar. Die Beschwerden aus den umliegenden Straßen haben zugenommen, das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung abgenommen. „Es macht einen Unterschied, ob die Obdachlosen in ihrem üblichen Park sitzen, wo auch mal Polizei und Streetworker vorbeischauen oder ob sie sich im Hinterhof eines Wohngebäudes verstecken müssen“, sagt Daniela Unterholzner. Was derlei Verbote, etwa auch das kürzlich in Bozen in Kraft getretenen Platzverbot „DASPO urbano“ mit sich bringen, ist Kriminalisierung. Es drohen Verwarnungen und Geldstrafen. Diese Maßnahmen führen zu weiterer Marginalisierung und die Perspektivenlosigkeit, die Hemmschwelle, Hilfe in Anspruch zu nehmen, wird für Betroffenen noch größer. Wenn die Menschen im Bozner Bahnhofspark Weihnachtsbäumen, Riesenrad und Marktbuden weichen, mag es dem touristischen Image der Stadt dienen, an der Situation ändert sich nichts. Sie hat sich nur verlagert.
Es geht auch anders
Selbst wenn man den moralischen Aspekt gänzlich außer Acht lässt und schlichtweg mit Zahlen argumentiert, spricht alles dafür, dass Investitionen in Wohnraum und Sozialarbeit um ein vielfaches effektiver und günstiger sind als Verbote, Räumungen und aufwendige Überwachungstechnik. Beispiele und Studien aus anderen Ländern und Städten belegen, dass die Kosten für die Allgemeinheit längerfristig signifikant niedriger bleiben, wenn eine Gesellschaft in innovative Projekte und Integrationsmaßnahmen für marginalisierte Menschen investiert. Finnland sorgte im vergangenen Jahr mit einer Meldung für Aufsehen, wonach es in den finnischen Städten so gut wie keine Obdachlosigkeit mehr gibt. Es ist das einzige Land in Europa, in dem die Obdachlosigkeit sinkt. Grund dafür ist das Konzept „Housing First“ (siehe Infobox). In vielen Ländern weltweit bestätigt sich der Grundgedanke der Idee, dass eine sichere Wohnsituation die beste Ausgangssituation für alle Menschen ist, um das eigene Leben wieder in geregelte Bahnen zu lenken. Die Zahlen sprechen dafür. Auch in mehreren italienischen Großstädten (Turin, Mailand, Neapel) sind mittlerweile Housing First-Projekte gestartet.
Die Menschen bleiben
Derzeit werden durch das Dublin-Abkommen Tag für Tag Asylbewerber*innen aus Nachbarländern zurück nach Italien geschickt, weil ihr Asylantrag abgelehnt wurde oder sie ihre Fingerabdrücke erstmals in Italien abgegeben haben. In den kommenden Monaten müssen auch jene Menschen, die in großer Zahl vor vier Jahren in die Asylunterkünfte eingezogen sind und deren Asylverfahren bald abgeschlossen ist, die Strukturen verlassen. Viele von ihnen haben bereits eine Arbeit, aber keine Wohnung. Jene hingegen, die einen Negativbescheid für ihr Asylverfahren bekommen oder durch Salvinis Sicherheitsgesetz ihren Aufenthaltstitel verlieren, stehen von einem Tag auf den anderen buchstäblich auf der Straße, abgestempelt als „Illegale“. Viele dieser Menschen tauchen unter und landen nicht selten unter der Brücke oder im Park.
Der 20-jährige Alagie aus Gambia kam als unbegleiteter Minderjähriger nach Italien und hat jahrelang in den Aufnahmestrukturen und Einrichtungen unseres Landes zugebracht bevor er einen positiven Asylbescheid bekommen und die Struktur verlassen hat. Von dem Zeitpunkt an war der junge Mann auf sich allein gestellt. Im vergangenen Jahr absolvierte er eine sechsmonatige EU-finanzierte Ausbildung zum Bauarbeiter, etliche Stunden saß er im Italienischkurs. Derzeit hält er sich mit prekären Gelegenheitsjobs irgendwie über Wasser, einen Wohnplatz hat er nicht.
Der mangelnde leistbare Wohnraum in Südtirol ist längt ein Thema, das die breite Bevölkerung betrifft, nicht nur Menschen am Rand der Gesellschaft. Dort jedoch bewirkt es, dass Menschen Zelte unter Brücken aufschlagen und kriminalisiert werden. Die Thematik der Obdach- und Wohnungslosigkeit wird hierzulande immer noch wie eine Notfallsituation behandelt, in der es schneller Lösungsmaßnahmen bedarf. Diese „Lösungen“, die wie es scheint nur bis zum nächsten Frühling gedacht werden, zeigen auch in diesem Winter, dass sie dem Phänomen bei weitem nicht gerecht werden. Es ist längst keine akute, sondern vielmehr eine strukturelle Herausforderung, der wir uns als Gesellschaft stellen müssen. Alle gemeinsam. Besser heute als morgen.
Interview
Unter diesem Motto ermöglicht „neunerhaus“ obdachlosen und armutsgefährdeten Menschen ein selbstbestimmtes Leben und neue Perspektiven. Seit 2017 leitet die Südtirolerin Daniela Unterholzner die Geschäfte der Wiener Sozialorganisation. Im neunerhaus Café im 5. Bezirk traf zebra. sie zum Gespräch.
Wie ist neunerhaus entstanden?
Daniela Unterholzner: Ende der 90er Jahre lebten in Wien immer mehr und immer jüngere Menschen auf der Straße. Es gab Angebote und Strukturen für Obdachlose, aber die Leute gingen nicht hin. Weil sie alkoholkrank waren und dort nichts trinken durften, weil sie ihren Hund nicht mitbringen konnten, oder weil sie nicht als Paar dort unterkommen konnten. Aus einer Bürgerinitiative etablierte sich neunerhaus – ein Haus, in das Menschen kommen können, so wie sie sind und wo dann geschaut wird, wie es weitergeht.
Was ist daraus geworden?
Heute wohnen in den drei Wohnhäusern und 212 betreuten Wohnungen in der ganzen Stadt jährlich rund 600 Menschen, ein Drittel davon Kinder. Daneben verfügt neunerhaus über ein Gesundheitszentrum für wohnungslose und nichtversicherte Menschen, eine Tierarztpraxis und ein Café. Unsere Sozialarbeit ist niederschwellig, unser Credo: Du bist wichtig, wir wollen mit dir arbeiten!
Was meint niederschwellige Sozialarbeit?
neunerhaus erreicht Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen und bildet eine Brücke zurück zum System. Unsere Sozialarbeiter*innen sind überall und nicht ausgewiesen. Sie arbeiten interdisziplinär im Team mit Ärzt*innen und Verwaltungspersonal. Sie sitzen im Café und sind immer ansprechbar, sie warten am Empfang des Gesundheitszentrums, sie begleiten Menschen zu Untersuchungen oder kommen mit jemandem ins Gespräch, dessen Hund gerade operiert wird. In der Tierpraxis erreichen wir auch jene, die sich selbst schon aufgegeben haben und nur noch ihr Tier haben.
Bei neunerhaus ist Wohnen das zentrale Thema, warum?
Das Grundrecht auf Wohnen ist nicht umsonst ein Menschenrecht. Eine sichere Wohnsituation ist die Ausgangsbasis für ein geregeltes Leben. Diese Erkenntnis widerspiegelt sich im Konzept von Housing First, mit dem wir seit 2012 arbeiten.
Was hat Housing First mit sich gebracht?
Housing First ist eines der zentralen Mittel zurück in die Eigenverantwortung. Das gängige Stufenmodell wird ausgelassen und die Leute bekommen sofort eine eigene Wohnung mit einem längerfristigen Mietvertrag. Das hat viele Vorteile und es bestätigt sich einmal mehr, dass in der Regel jeder Menschen imstande ist eigenständig zu wohnen – vorausgesetzt der Gesundheitszustand lässt das zu. Wir verfolgen einen nicht-paternalistischen Betreuungsansatz mit individueller Beratung für jede Person. Dass das funktioniert, beweisen uns nicht zuletzt die Zahlen und eine Mietstabilität von 94 Prozent in unseren Wohnungen.
Wie wohnt es sich in den neunerhaus-Wohnungen?
In unseren Häusern hat jede*r einen eigenen Schlüssel. Es gibt keinen Portier und keine Kontrollbesuche. Die Wohnungen sind in der ganzen Stadt verstreut. Bestenfalls wissen die Nachbarn nicht mal, dass sie neben einem Klienten von neunerhaus wohnen. Die Sozialarbeit basiert auf Freiwilligkeit. Dieser Vertrauensvorschuss wird sehr gut angenommen. Die Menschen können Termine bei ihren persönlichen Sozialarbeiter*innen vereinbaren, die können zuhause oder in einem Büro stattfinden.
Woher kommen die Wohnungen?
neunerhaus hat eine eigene Immobilien-GmbH gegründet: neunerimmo. Sie versteht sich als gemeinnütziges Verbindungsglied und Vermittlerin zwischen Immobilienbranche und Sozialorganisation, akquiriert leistbaren Wohnraum, kann anmieten und weitervermieten und entwickelt gemeinsam mit Bauträgern neue Projekte mit. Mittlerweile treten auch private Vermieter an uns heran, die mehrere Wohnungen haben und eine neunerimmo zur Verfügung stellen.
Wie ist die Wohnsituation in Wien?
Wien hat ein gutes System mit leistbarem Wohnraum, Kommunal- und Gemeindewohnungen. Es gibt verhältnismäßig wenig Eigentum und private Vermieter. Es gibt eine Tradition der Gemeinnützigkeit. Dennoch sind die Mieten seit 2008 um 40 Prozent gestiegen, die Löhne kaum und die Zahlen in der Wohnungslosenhilfe steigen auch hier.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Unser Ziel ist kein geringeres, als Obdach- und Wohnungslosigkeit zu beenden. Ich glaube, dass es möglich ist. Wir brauchen dazu einen Perspektivenwechsel in der Herangehensweise. Die Frage, die wir uns künftig stellen müssen, darf nicht lauten: Wie bekommen wir Menschen in der Betreuung unter? Sondern: Wie bekommen wir sie wieder raus?
Obdachlosigkeit
Als obdachlos gelten Menschen ohne eine Unterkunft, die auf der Straße und an öffentlichen Plätzen leben, sich in Verschlägen, Parks oder unter Brücken aufhalten. Obdachlos sind aber auch Menschen in Notunterkünften, die keinen festen Wohnsitz haben und in Notschlafstellen oder anderen niederschwelligen Einrichtungen übernachten.
Wohnungslosigkeit
Wohnungslos sind Menschen, die in Einrichtungen mit begrenzter Aufenthaltsdauer, etwa Übergangswohnheimen, Asylen und Herbergen leben. Auch Frauen und Kinder, die wegen häuslicher Gewalt in einer Schutzeinrichtung beherbergt sind oder Asylbewerber*innen mit ungeklärtem Asylstatus, die in Unterkünften wohnen, zählen zu dieser Gruppe. Eine weitere Gruppe Wohnungsloser sind Menschen, die aus Institutionen (Heilanstalten, Gefängnissen, Jugendheimen) entlassen werden und noch keinen Wohnplatz haben.
Ungesichertes Wohnen
Menschen, die temporäre Unterkunft bei Bekannten oder Verwandten finden ohne einen Hauptwohnsitz oder Rechtstitel (ein vertragliches Mietverhältnis) zu haben, und vom guten Willen anderer Menschen abhängig sind sowie solche, die durch illegale Land- oder Hausbesetzung zu Wohnraum kommen, leben in ungesicherten Wohnverhältnissen. Dazu zählen auch Menschen, die von einer gerichtlich verfügten Delogierung oder in ihrer Wohnung von häuslicher Gewalt bedroht sind.
Unzureichendes Wohnen
Davon spricht man, wenn Menschen in Behausungen leben, die nicht für konventionelles Wohnen konzipiert sind. Dazu zählen als „unbewohnbar“ deklarierte Wohnungen, Wohnwägen und Zelte. Zu solchen Wohnprovisorien gehören auch Garagen, Keller, Dachböden, Abbruchhäuser etc. Das Wohnen in Räumen, die entgegen den Mindestanforderungen völlig überbelegt sind und von mehr Menschen als zulässig t bewohnt werden, gilt ebenfalls als unzureichend.
Quelle: ETHOS Europäische Typologie für Wohnungslosigkeit
Wer sind die Obdachlosen in Bozen?
Die meisten obdachlosen Menschen in Südtirol lassen sich einer der folgenden Kategorien zuordnen:
- Personen, die das Asylverfahren abgeschlossen haben, oder über einen anderen gültigen Aufenthaltstitel verfügen. Diese gehen oftmals einer Arbeit nach, finden aber auf dem freien Wohnungsmarkt keine leistbare Wohnung und in bestehenden Wohn-Strukturen keinen Wohnplatz, weil diese überfüllt sind.
- Personen mit noch ungeklärtem Asylstatus und sogenannte „fuori quota“, also internationale Schutzsuchende, die sich autonom und unabhängig von staatlichen Bescheiden in die Provinz begeben haben und in hiesigen Strukturen für Asylbewerber*innen nicht aufgenommen werden.
- EU- und Nicht-EU-Bürger*innen, die oft schon älter sind oder seit Jahren auf der Straße leben. Sie leiden häufig an Suchterkrankungen und gesundheitlichen Problemen. Weil in vielen bestehenden Strukturen Alkoholkonsum verboten ist, sie ihren Hund nicht mitnehmen oder nicht als Paar untergebracht werden können, bleiben sie auf der Straße.
Housing First ist ein alternativer Ansatz im Umgang mit Obdach- und Wohnungslosigkeit. Die Idee ist in den USA gestartet und findet mittlerweile auch in vielen europäischen Ländern Anklang. Anders als bei gängigen Programmen müssen sich Betroffene nicht durch verschiedene Ebenen der Unterbringungsformen für eine Wohnung „qualifizieren“, sondern ziehen direkt in eine „eigene“ Wohnung ein. Es wird keine Abstinenz von Alkohol oder anderen Substanzen verlangt. Die Teilnahme an Unterstützungsprogrammen ist freiwillig. Der Ansatz basiert darauf, dass eine obdachlose Person oder Familie als erstes und wichtigstes eine stabile Unterkunft braucht, um dann andere Angelegenheiten (Gesundheit, Sucht, Arbeit) angehen zu können. Erste Studien in Amerika belegen, dass die Zahl der obdachlosen Menschen in Gebieten mit Housing First um 30 Prozent sinkt und 77 Prozent der Teilnehmenden auch nach zwei Jahre noch dabei sind. Untersuchungen in Europa zeigen, dass die Wohnstabilität nach 24 Monaten selbst bei Personen mit Doppeldiagnosen und ohne Betreuungsverpflichtung höher ist und seltener Wohnungslosigkeit eintritt als bei Kontrollgruppen mit einer Abstinenzvoraussetzung. Es verbessert sich der Gesundheitszustand, der Alkoholkonsum und die Kriminalitätsrate sinken, während die Bereitschaft für Therapieangebote steigt. Für die Gemeinden bedeutet dies eine signifikante Kostenreduktion durch weniger Inhaftierungen, sinkende Nutzung von Rettungsdiensten und medizinischen Versorgungsleistungen sowie die Reduktion von Notquartieren.