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Kompliz:innen? Nein, danke

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Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter: Die der Männer, die gewalttätig werden, aber auch die der Gesellschaft, die sie trägt. Wir müssen lernen die Gewalt zu erkennen.


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Männliche Gewalt gegen Frau en hat viele Gesichter: die der Männer, die gewalttätig werden, aber auch die der Gesellschaft, die sie trägt. Wir müssen lernen, die Gewalt zu erkennen.

Am 11. November 2023 wurde in Venetien die 22-jährige Studentin Giulia Cecchettin von ihrem Ex-Freund Filippo Turetta ermordet. Ein Femizid, der im In- und Ausland große Aufmerksamkeit erregte. Nicht zuletzt deshalb, weil sich die Schwester der Ermordeten, Elena Cecchettin, um eine öffentliche Klarstellung der Fakten bemühte: Die Verantwortung für diesen Femizid ist nicht in den Handlungen eines Monsters, eines Außenseiters zu suchen, sondern in der Gesellschaft selbst. Denn: Männliche Gewalt gegen Frauen wird nicht von „kranken Monstern“ begangen, sondern von den „gesunden Söhnen des Patriarchats“. Und: Sie kann jede* treffen.

„Immer wenn ein Femizid große mediale Aufmerksamkeit erfährt, steigt die Zahl der Frauen, die sich bei uns in der Kontaktstelle gegen Gewalt an Frauen melden, sprunghaft an“, sagt Christine Clignon, Vorsitzende der Südtiroler Kontaktstelle gegen Gewalt an Frauen GEA. So auch nach dem Femizid an Giulia Cecchettin: „Frauen rufen an und sagen: Ich habe Angst, die Nächste zu sein.“ Femizide und genderspezifische Gewalt, die an die Öffentlichkeit gelangen, erhöhen die Alarmbereitschaft in unseren Köpfen und Körpern. Sie sorgen dafür, dass die männliche Gewalt gegen Frauen, die unzählige Male normalisiert, verdrängt, verharmlost, gebilligt oder gar gerecht fertigt wird, als konkrete Gefahr ins Bewusstsein vordringt. Die 103 Frauenmorde, die 2023 in Italien erfasst wurden, zeigen die Spitze eines Eisbergs, der zum größten Teil im Privaten verborgen bleibt. Denn:

"Was die Opfer von Gewalt eint, ist, dass die Gewalt in den allermeisten Fällen von einem Familiennmitglied oder einer ihnen nahestehenden Person ausgeht“, so Clignon.

 

Was ist Gewalt? Und warum wir sie nicht sehen

Männliche Gewalt an Frauen, die sich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit verbirgt, hat viele Gesichter: Wir sprechen von körperlicher, psychischer, sozialer, sexualisierter oder finanzieller Gewalt, von Belästigung oder Stalking. Dabei geht es nicht darum, die Grenzen der Gewalt in einer spezifischen Situation zu erkennen sondern im Verhalten einer Person: Eine Person ist gewalttätig, wenn ihre Handlungen eine andere Person körperlich oder psychisch schädigen, finanziell einschränken oder in irgendeiner Weise bestrafen, verunsichern oder demütigen. „Die Handlungen zielen darauf ab, eine Person und ihre Freiheit
zu gefährden“, sagt Marina Della Rocca, Anthropologin mit Erfahrung im Bereich genderspezifische Gewalt. „Wir sprechen dann von Gewalt, wenn die Grenzen, die eine Person für sich selbst setzt, nicht fortwährend respektiert werden“. Während körperliche Gewalt oft leichter erkennbar und kommunizierbar ist, können andere Formen von genderspezifischer Gewalt oft subtile Formen annehmen. „Frauen werden beispielsweise von ihren Partnern in finanzielle Abhängigkeit gedrängt, sozial isoliert oder kontrolliert“, so Della Rocca. Obwohl jede Frau spüre, wenn ihre Grenzen überschritten werden, sei es aber nicht immer einfach, diese Formen von Gewalt als solche zu erkennen und zu benennen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen beeinträchtigen unser Verständnis von Liebe, Scham und die Verantwortung, die Frauen für das Familienprojekt zugeschrieben wird, die bewusste Wahrnehmung von Gewaltsituationen: 

„Wenn Besitz und Gewalt in den Medien, aber auch in kulturellen Produkten wie Liebesliedern und -filmen normalisiert werden, wird es schwierig, sich selbst in einer Gewaltsituation zu erkennen“, sagt Della Rocca. Zum anderen haben viele Frauen Angst, die Gewalt, die sie erleben, zur Sprache oder gar zur Anzeige zu bringen. Hat eine Frau Kinder, kann die Angst überwiegen, eine bestehende Familienkonstellation zu zerstören. Bei sehr selbstständigen Frauen ist die erlebte Gewalt hingegen häufig mit Scham behaftet. „Dabei zeigen Präzedenzfälle, dass Gewalt jede von uns treffen kann – egal wie unabhängig, gebildet, arm oder reich." Eine Tatsache, die auch Christine Clignon bestätigt: „An uns wenden sich Frauen jeden Alters, jeder Herkunft und jeder sozialen Schicht; Frauen aus ländlichen und aus städtischen Gebieten“, so die Leiterin der Kontaktstelle gegen Gewalt an Frauen GEA. 

Eine Frage der Ressourcen

Was die Frauen eint, ist, dass die Gewalt in den allermeisten Fällen von einem Familienmitglied ausgeht. Was sie unterscheidet, sind die Ressourcen, mit denen sie der Situation begegnen. So verfügt nicht jede Frau über die finanziellen Mittel, um sich ohne fremde Hilfe aus der Gewaltsituation zu befreien, oder über ein soziales Netzwerk vor Ort, das ihr einen sicheren Zufluchtsort bieten kann. „Vor allem Frauen mit Migrationshintergrund verfügen möglicherweise nicht über den nötigen sozialen und finanziellen Rückhalt, um sich eigenständig aus einer Gewaltsituation zu befreien“, sagt Della Rocca. Sie haben aber wie alle anderen die Möglichkeit, sich anonym – und ohne direkte Konsequenzen befürchten zu müssen – an die Kontaktstellen gegen Gewalt zu wenden und auf eigenen Wunsch im Frauenhaus aufgenommen zu werden. Wie Della Rocca erklärt, kann es vor allem in kleineren Ortschaften manchmal schwieriger sein, sich Gewaltsituationen gegenüber zu öffnen. Auch deshalb sei es wichtig, Informationen über mögliche Hilfen auch in isoliertere Kontexte zu bringen und öffentliche, aber auch in formelle Hilfe anzubieten.

Alarmsignale erkennen

Die Kontaktstellen gegen Gewalt an Frauen sind in ganz Südtirol präsent und leisten mit Unterstützung der Öffentlichkeit einen wichtigen Beitrag zum Schutz von Frauen. Um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, muss der Schutz in konkreten Gewaltsituationen jedoch mit einer breiten Bewusstseinsbildung einhergehen. Hier sehen sowohl Della Rocca als auch Clignon noch große Defizite. „Was fehlt ist vor allem die Ausbildung des Personals, das in diesem Bereich tätig ist“, erklärt Della Rocca, die als Anthropologin am Kompetenzzentrum Soziale Arbeit und Sozialpolitik der Universität Bozen arbeitet. Das gelte sowohl für Sozialarbeiter:innen als auch für Personen im Ordnungs- und Rechts system. Wer im Sozialbereich tätig ist, muss lernen, Warnsignale zu erkennen.

„Die Schlüsselwörter sind Kontrolle und Ungleichgewicht. Wenn zum Beispiel ein Mann versucht, seine Partnerin zu isolieren oder zu kontrollieren, immer wieder die Grenzen ihrer Privatsphäre überschreitet oder sie als sein Eigentum betrachtet, das er mit niemandem teilen will, können das Anzeichen für eine gewalttätige Beziehung sein“, sagt Della Rocca. Andere Signale sind die finanzielle, soziale oder emotionale Abhängigkeit einer Frau und das daraus resultierende Machtgefälle. Signale, die übrigens auch von Angehörigen oder Außenstehenden beobachtet werden können: „Wir können versuchen, die Autonomie einer Frau in einer Beziehung auszuloten und uns im Zweifelsfall an die Anlaufstelle gegen Gewalt an Frauen wenden“, so Della Rocca. Denn: „Es ist gut, Zweifel auszuräumen. Im besten Fall ist nichts dahinter dabei, im schlimmsten Fall bietet man einer Person, die sich in einer Gewaltsituation befindet, Hilfe an“. Eine mögliche Gewaltsituation sollte aber nie direkt, sondern nur mit Hilfe von kompetenten Fachpersonen angegangen werden

Den Frauen muss geglaubt werden

Neben den im sozialen Bereich Tätigen muss auch das Ordnungs- und Rechtspersonal geschult werden. “Es kann nicht sein, dass, wenn sich eine Frau in einem Dorf an die Ordnungskräfte wendet, ihr ein Foto von einem glücklichen Moment gezeigt wird und man sie fragt, ob sie diesen Schritt wirklich gehen will. Einer Frau, die Hilfe sucht, muss geglaubt werden“, so die Leiterin der Kontaktstelle gegen Gewalt an Frauen, Christine Clignon. Um solchen Situationen vorzubeugen, appelliert Clignon an Frauen, die sich in einer Gewaltsituation befinden, sich in einem ersten Moment an die Kontaktstellen gegen Gewalt an Frauen zu wenden. „Wir hören zu, stellen uns auf die Seite der Frau und helfen, das Risiko einzuschätzen“, sagt Clignon. „In einem zweiten Schritt können wir die Frauen dann bei einer möglichen Anzeige begleiten und Schutzmaßnahmen anbieten – kleinere Unterstützungsmaßnahmen oder eine Aufnahme im Frauenhaus.“ Dieser erste Kontakt mit der Anlaufstelle gegen Gewalt ist besonders wichtig, da Präzedenzfälle zeigen, dass der Moment der Anzeige zu einer Eskalation der Gewalt führen kann. Im Jahr 2023 wurde der „Codice Rosso“, der Anzeigen und polizeiliche Meldungen von Stalking, häuslicher und sexueller Gewalt regelt, in Südtirol knapp 400 Mal aktiviert. Das sind 20 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Nicht, weil die männliche Gewalt gegen Frauen zugenommen hat; dazu gibt es, wie Clignon erklärt, kein Monitoring und daher auch keine konkreten Zahlen. Zudem bestehe bei dieser Lesart die Gefahr, Gewalt gegen Frauen als akuten Notfall darzustellen, „dabei hat Gewalt gegen Frauen absolut nichts mit einem Notfall zu tun“, so Clignon. „Sie ist ein strukturelles Phänomen, das seit Jahrhunderten existiert und nur langsam an die Oberfläche kommt.“
Bei den Kontaktstellen gegen Gewalt an Frauen können Gewaltsituationen sicher an die Oberfläche kommen. Auch hier haben die Kontakte in den letzten Jahren stark zugenommen. Während etwa die Hälfte der Hilfesuchenden von körperlicher Gewalt betroffen ist, wenden sich heute auch Frauen, die anderen Formen von Gewalt ausgesetzt sind, an GEA. „Die meisten erleben verschiedene Formen von Gewalt“, sagt Clignon. „Und bei fast allen, also bei 92 Prozent, ist psychische Gewalt dabei.“

Kompliz:innen des Systems

Während also das Bewusstsein für patriarchale Gewalt auch im von traditionellen Familienstrukturen geprägten Südtirol wächst, muss möglichen Rückschritten aktiv vorgebeugt werden: „Sobald wir uns der patriarchalen Strukturen und der Gefahren, die von ihnen ausgehen, bewusst werden, müssen wir alles daran setzen, dieses Bewusstsein aufrechtzuerhalten“, so Della Rocca. Denn: „Es ist unglaublich leicht, in alte Muster zurückzufallen, vor allem, wenn politische Macht – aus welchen Gründen auch immer – Realitäten schafft, die die Unterwerfung von Frauen bedeuten. Die rezente Geschichte vieler Länder zeigt dieses Risiko deutlich“. Um Gewalt sehen zu können, müssen Ressourcen aktiviert und tragfähige Alternativen geschaffen werden. Eine tragfähige Alternative bietet die Kontaktstelle gegen Gewalt an Frauen. Drumherum braucht es aber gut ausgebildetes Personal in den betroffenen Bereichen und eine wachsame Gesellschaft: „Wachsam sein heißt zuhören, aber auch in unangenehmen Situationen Stellung beziehen. Zum Beispiel, wenn jemand einen frauenfeindlichen Witz erzählt“, sagt Clignon. Und weiter: „Wir alle müssen damit beginnen, uns zu fragen, wo wir Kompliz:innen eines toxischen Systems sind, das uns umbringt“.

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