Zwischen Krise und Hoffnung
Alberto Acosta, Ökonom und ehemaliger ecuadorianischer Minister für Energie und Bergbau, setzt sich seit Jahrzehnten für Umweltgerechtigkeit ein. Warum ein früherer Spitzenpolitiker an die Kraft des Wandels glaubt.
Den vollständigen zebra. Artikel der Ausgabe 10/2024 gibt es hier zu lesen.
Zwischen Krise und Hoffnung
Alberto Acosta, Ökonom und ehemaliger ecuadorianischer Minister für Energie und Bergbau, setzt sich seit Jahrzehnten für Umweltgerechtigkeit ein. Warum ein früherer Spitzenpolitiker an die Kraft des Wandels glaubt.
Wie würdest du die politische Lage aktuell in Ecuador beschreiben?
Alberto Acosta: Die politische und wirtschaftliche Situation ist prekär und die Sicherheitslage instabil. Die Wirtschaft in Ecuador hat sich nach der Pandemie nicht wieder erholt. Die Armut wächst; die Schere zwischen Arm und Reich auch. Die Mafia und die großen Verbrecherbanden bauen ihre Macht im Land stetig aus. Sie kontrollieren bestimmte Instanzen des Staates und teilweise sogar die Justiz, die Presse, die Polizei und die Armee. Seit mehreren Monaten haben wir Schwierigkeiten mit der Stromversorgung und oft kommt es zu unangekündigten Stromausfällen. Aktuell bereiten wir uns auf die nächste Wahl vor, die am 9. Februar 2025 stattfinden wird. Leider sehe ich bis jetzt noch kein konkretes politisches Programm, mit dem wir diese komplexe Situation meistern können. Vor allem gibt es keine Vision, wie es sie vor 20 Jahren gab.
Zu dieser Vision gehörte auch das Buen Vivir. Wie würdest du dieses Konzept beschreiben?
Buen Vivir – das gute Leben – ist das Leben in Harmonie und Einklang mit sich selbst. Das Konzept stammt aus den indigenen Gemeinschaften Südamerikas und trägt viele Namen, z.B. Sumak Kawsay auf Quechua und Suma Qamaña auf Guaraní. Wir brauchen einen tieferen Gemeinschaftssinn, eine starke Naturverbundenheit und eine spirituelle Beziehung. Diese ist nicht unbedingt als Religion, sondern vielmehr als Solidarität und Empathie zu verstehen. Das wären die drei Grundpfeiler, auf denen man das gute Leben woanders aufbauen kann.
Wie kann das gelingen?
Das gute Leben sollte man nicht als Singular, sondern als Plural betrachten. Also „Buenos Convivires“, damit wir dieses Konzept nicht als einzigen Weg betrachten. Die Ideen, die Werte und die Praktiken des guten Lebens existieren nicht nur in Südamerika. Es gibt sie in Indien, in Japan, in Afrika… Man kann diese Konzepte allerdings nicht eins zu eins auf andere Länder übertragen. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass man auch hier in Südtirol solche Gedanken braucht. Gemeinschaftssinn, Einklang mit der Natur und eine respektvolle Beziehung zwischen den Menschen.
Findest du, dass in der westlichen Welt dieser starke Gemeinschaftssinn fehlt?
Das Gemeinschaftliche ist in Gefahr durch den Individualismus, der jetzt in der westlichen Welt, in Europa, in Japan und den Vereinigten Staaten, als eine neue soziale Krankheit auftritt. In reichen Ländern wie Japan und England existiert seit einigen Jahren ein Ministerium für Einsamkeit. Dieses unterstützt Menschen, die wenig soziale Kontakte haben.
Was war der zentrale Anstoß, um das Buen Vivir in die ecuadorianische Verfassung zu integrieren?
Das Buen Vivir stammt weder aus einer Universität noch aus einer politischen Partei. Es entstand in den indigenen Völkern, die vom Großteil der Gesellschaft isoliert, ausgebeutet und beinahe ausgerottet wurden. Die Kämpfe der Indigenen existieren seit vielen Jahrhunderten. Sie haben Widerstand gegen die Kolonialherrschaft der Spanier und Oligarchien geleistet. Vor ungefähr 20 Jahren hat sich eine starke indigene Bewegung gebildet, die politisch aktiv geworden ist. Diese Völker konnten trotz aller Unterdrückung ihre Werte, Visionen und Praktiken bewahren.
Wie sieht der Umgang mit dem Konzept des Buen Vivir heute aus?
In den letzten Jahren erleben wir einen Rückzug von den progressiven Ideen, die das „gute Leben“ in Bolivien und Ecuador verkörperten. Trotzdem gibt es einige Gruppen, die diese Ideen noch vertreten und weiter verteidigen. Aber die Zeit, die wir vor 20 Jahren erlebt haben, ist vorbei.
Wie erklärt man sich diesen Wandel?
Die globale Lage hat sich wirtschaftlich und politisch verschlechtert. Das Konzept des Buen Vivir wurde in Ecuador und Bolivien ausgehöhlt. Die Regierungen von Evo Morales in Bolivien und Rafael Correa in Ecuador haben das Buen Vivir als Machtinstrument missbraucht. Dies hat dazu geführt, dass viele Menschen nicht mehr gut auf das Buen Vivir zu sprechen sind.
Ist Ecuador das einzige Land, in dem die Natur als Rechtssubjekt in der Verfassung verankert ist?
Bis jetzt ja. Aber nachdem wir die Natur als Rechtssubjekt in der Verfassung anerkannt haben, hat sich diese Idee weltweit verbreitet. Zurzeit gibt es ungefähr 40 Länder, in denen die Natur auf verschiedene Art und Weise als Rechtssubjekt anerkannt wird. In Bayern zum Beispiel sammelt eine Gruppe von Bürger:innen Unterschriften, um die Rechte der Natur in der Landesverfassung zu verankern. Dabei ist es wichtig, zwischen den Rechten der Natur und den Umweltrechten zu unterscheiden. Die Umweltrechte sind auf den Menschen ausgerichtet. Die Rechte der Natur sind biozentrisch. Alle Lebewesen – menschliche und nichtmenschliche – haben das Recht auf eine würdige Existenz.
Seit Jahren kämpfst du gegen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Besonders wichtig ist dir die Yasuní- ITT-Initiative. Die ecuadorianische Regierung war 2007 dazu bereit, auf Erdölbohrungen im Yasuní-Regenwald zu verzichten, wenn die internationale Gemeinschaft für mindestens die Hälfte des entgangenen Ertrags aufgekommen wäre. Wieso ist es dann doch nicht dazu gekommen?
Obwohl wir uns lange dafür eingesetzt haben, ist diese Initiative 2013 gescheitert. Das liegt daran, dass Präsident Correa keine politische Strategie hatte. Dadurch wurde das internationale Vertrauen in die Initiative geschädigt. Außerdem waren die großen Ölunternehmen und viele einflussreiche Länder dagegen. Sie wussten, dass das eine revolutionäre Initiative ist, die sie finanziell schwächen würde.
Dennoch wurde das Projekt nicht aufgegeben…
Wir haben versucht, so viel wie möglich davon zu retten. Eine Gruppe von Frauen, Männern und vielen jungen Menschen hat sich engagiert, um das Leben der indigenen Völker und der Natur zu verteidigen. Dank ihnen konnten wir im August letzten Jahres etwas Großartiges erreichen: In einer Volksabstimmung haben sich 60 Prozent der Bevölkerung dafür ausgesprochen, dieses Gebiet und die dort lebenden Indigenen zu schützen. Auch ohne Kompensationszahlungen von anderen Ländern. Damit hat ein Land, das stark vom Ölexport abhängig ist, Natur und indigenes Leben an oberste Stelle gesetzt.
In immer mehr Ländern werden Klimaaktivisten kriminalisiert. Wie ist die Lage in Ecuador?
Die Klimaaktivisten haben es in Ecuador sehr schwer. Besonders gefährlich ist die Situation der Menschen auf dem Land. Manchmal müssen sogar Bauern und Kinder zu Aktivisten werden, um ihren Grund zu verteidigen. Unter dem Vorwand, die Mafia zu bekämpfen, werden diese Menschen wie Terroristen verfolgt. Durch Polizei und Armee wird dafür gesorgt, dass die Bergbaufirmen ungestört arbeiten können.
Welche Ratschläge hast du für junge Aktivist:innen?
Am wichtigsten ist es, sich zu informieren und gemeinschaftlich zu arbeiten. Ansonsten ist man leichter angreifbar und kann sich schwerer durchsetzen. Man muss die Kämpfe vernetzen. Dabei dürfen wir uns jedoch nicht nur auf den Naturschutz konzentrieren. Menschenrechte und Demokratie sind ebenfalls essenziell. Wenn wir eines dieser Elemente vernachlässigen, können auch die anderen nicht verwirklicht werden.
Du setzt dich seit vielen Jahren für Umwelt, Klima und eine gerechte Gesellschaft ein. Woher nimmst du die Kraft, um weiterzukämpfen?
Wahrscheinlich bin ich von Natur aus Optimist. Obwohl ich weiß, dass die Lage sehr schwierig ist, gebe ich die Hoffnung nie auf. Die Hoffnung ist für mich nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht. Sie ist vielmehr die Gewissheit, dass das, was ich tue, einen Sinn hat. Darüber hinaus habe ich noch eine andere Motivation: Meine fünf Enkelkinder. Wir dürfen nicht ausschließlich an uns selbst denken, sondern auch an die Situation der künftigen Generationen. Wenn wir die Natur zerstören, vernichten wir nicht nur unsere Lebensgrundlagen, sondern auch die Freiheit der nächsten Generationen. Trotz aller Probleme habe ich sehr viel Hoffnung in die Menschheit. Immer wieder gibt es Entwicklungen, die uns – trotz aller Rückschläge – neue Hoffnung geben.